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Wir 89er

Geschrieben im Jahr 2010 von Markus Lochmann

Wir 1989er

Ich bin Teil einer Jugendbewegung. Nach nunmehr über 20 Jahren lebt und pulsiert sie wie eh und je. Neue Generationen sind nachgewachsen – Stil und Rhythmen haben sich im Laufe der Jahre verändert. Und dennoch – was in Untergrund-Klubs, Garagen und ausgedienten Lagerhallen begann, trotzt noch immer dem Zahn der Zeit und des beständigen Zermahlen des Kommerziellen. Die Techno-Bewegung lebt. Trotz Duisburg geht es weiter – weil uns Werte verbinden.

Eine kleine, einfache 40-Watt Glühbirne, von einem pfiffigen Elektrotechnikstundenten mit dem Pegel des Lautsprecherausgang zu einem Flackerlicht geschaltet – ein(!) Plattenspieler, viele kleine Vinylscheiben ohne Etikett und fünf zuckende Leiber in einer alten Garage. So fing meine ganz persönliche Geschichte mit der elektronischen Tanzmusik an. Das war im Jahr 1987.

Keiner meiner Freunde, Kommilitonen oder Bekannten wollte die Musik hören. Zu ungewohnt waren die tief wummernden Bässe, die zischenden Blechtrommellaute und die quietschenden Synthesizer-Töne. Nirgends war diese Musik zu hören – nicht im Radio, nicht im Musikladen. Kaufen konnte man die Platten auch nicht. Wir bezogen Sie aus London –  auf dunklen Kanälen direkt von den Machern der Musik.

Wir waren wenige. Wir waren anders. Von Anfang an standen wir für ein völlig neues Lebensgefühl: Keine Regeln, aber es herrschte 100% Toleranz. Wir mussten unsere Gemeinschaft nach außen abschotten – schließlich wurden wir in „bürgerlichen“ Kreisen als „Drogenmusik“ verunglimpft, unsere Partys waren „Orgien“ und anderes mehr. Wie immer, wenn die Mehrheit in einer Gesellschaft auf Neues trifft, regiert das Vorurteil, werden Gerüchte gestreut und Halbwahrheiten verbreitet – meistens von denjenigen, die keinerlei Ahnung haben, von was sie eigentlich reden.

Unser einzig verbindendes Element war die Musik.

Wir kamen aus allen Schichten der Gesellschaft – Söhne von Oberärzten waren unter uns genauso wie arbeitslose Mechaniker. Viele waren jung – aber nicht alle. Viele waren und sind Kreative – als Künstler, DJ, Musikproduzenten, in Werbe- und PR-Agenturen wirken wir bis heute.

Rasch verbreitete sich in der Szene das Wort von unseren Partys – nicht zuletzt deshalb, weil wir immer erst nach Mitternacht begannen – und nie vor sieben Uhr morgens endeten. Wir verstießen damit gegen jede Öffnungszeitenregel, die es gab – und das war gut so. Wir wollten uns die Freiheit nicht nehmen lassen, unsere Art des Lebens von offiziellen Stellen nehmen oder genehmigen zu lassen. Wir pfiffen auf den Staat. Die Welt war im Umbruch – ganze Staaten fielen, Diktaturen wurden durch protestierende gestürzt. Und wir, die kleine Gruppe von Musik-Freaks, stürzten die Regeln der nächtlich Ruhenden. Das war unser Protest.

Schnell wuchs die Teilnehmerzahl bei unseren Partys. Erst waren es einige Dutzend – dann einige hundert. Wir wurden professioneller, die Locations und die Anlagen wurden größer. Noch immer zapften wir den Strom illegal vom Nachbarn. Noch immer waren die Treffen konspirativ – per Telefon und Flyer wurde die Location erst am Abend der Party bekannt gegeben. Noch immer brauchte man eine Empfehlung eines Insiders, um auf die Party zu kommen.

Die Staatsmacht wurde natürlich auf uns aufmerksam. Bald sendete sie Spitzel in unsere düsteren Lagerhallen, die wir mit schwarzen Müllsäcken vor den Fenstern, Stroboskoplampen und Diaprojektionen zu Tanzhöhlen verwandelten. Man ließ uns, paradoxerweise, gewähren.

Vielleicht war es der allgemeinen Freiheitsstimmung geschuldet – vielleicht war man in der Stadt einfach auch stolz darauf eine solche Partyszene zu haben. (Sie sehen – die politische Dimension ist beileibe nichts Duisburg-Spezifisches oder Neues).

Die Medien entdeckten uns schließlich – mit Gasmasken vermummt und anonym wurden wir interviewt. Wir waren „Helden der Nacht“. Wir waren „in“ und unglaublich cool. Einige von uns eröffneten legale Clubs, andere Plattenläden, wieder andere designten Klamotten. Irgendwann schaffte es das Fernsehen auf eine (offizielle) Party und wir waren prominent in einer landesweiten Sendung zu sehen. Das war der Beginn des Kommerzes.

Unsere Grundsätze: Liebe, Freiheit, Frieden, Toleranz. Und die die Liebe zur elektronischen Tanzmusik

Bis dahin hatten unsere Grundsätze immer noch gehalten – Liebe, Freiheit, Frieden, Toleranz. Die auf den großen Veranstaltungen von heute geäußerten Mottos sind keineswegs leere Sätze – sie wurden und werden von den „echten“ Ravern bis heute gelebt. Wir interessierten uns nicht für Aussehen, Kleidung, Sprache, Nationalität, Geschlecht oder Hautfarbe. Jeder war gleich – gleich vor der Musik. Das einzige Kriterium, um dazu zu gehören, war die Liebe zur elektronischen Tanzmusik – das Tanzen und die Hingabe in den Sound – bis hin zur Erreichung vielgeschworenen Trance.

Wir nahmen keine Drogen – warum auch? Drogen hätten das Erlebnis der Musik nur verschleiert, verzerrt, geschwächt, geschmälert. Darum lache ich auch heute noch über „Raver“ mit Bierdosen – Alkohol ist ein Beruhigungsmittel! Also das genaue Gegenteil, von dem, was man als Technotänzer will.

Natürlich gab es Leute, die den mittlerweile halb-illegalen Raum nutzen wollten und versuchten, Drogen auf unseren Partys zu verkaufen. Und: Es gab ungleich mehr Menschen, die zu uns kamen, um Drogen zu kaufen(!). Wir warfen sie hinaus, gnadenlos. Per se war und ist die die Einstellung eines jeden echten Freundes von Techno/House gegen Drogen. Wer tanzen kann, braucht sie nicht. Sie verursachen Fehlverhalten, Neid, Raffgier, gesundheitliche Gefahren und vieles andere Schädliche mehr. Auch deshalb klebt an jedem Lovemobil der Street Parade auch heute noch das Plakat „No drugs“. Das ist kein leerer Spruch. Die echten Kenner der Musik tanzen eh nach dem Motto „Music is our only drug“. Das stimmt auch.

Selbstverständlich wurde das Thema in den Medien gepusht. Der Druck der Konservativen auf die Behörden wuchs – es gab erste Razzien. Bis auf ein Bußgeld wegen Ruhestörung waren die Konsequenzen gering. Im Gegenteil: In Zusammenarbeit mit den Behörden wurden die Partys schließlich legalisiert – es gab zwar Auflagen und Kontrollen. Aber es ging weiter.

In den neunziger Jahren war die Technobewegung die größte Jugendbewegung, die es jemals auf diesem Planeten gegeben hat. Sie verband Millionen von jungen Menschen überall auf der Erde, wie nichts anderes zuvor. Die aufkommende Technik des Internets verbreitete die oftmals von kleinen Künstlern produzierte Musik immer weiter. Neue Stars entstanden, neue Plattenfirmen. Um die Technobewegung wurde eine milliardenschwere Industrie gegründet, gipfelnd in Marken wie „Red Bull“, die heute Global Player sind.

Über zwei Jahrzehnte haben sich die Werte aus unserer Garage erhalten: Respekt, Toleranz, Liebe, Freiheit. Sie strahlen weit in die Gesellschaft hinein, die vieles liberalisiert hat, die die Jugendkultur als festen Bestandteil integriert hat.

Für mich, der von Anfang an dabei war, ist heute in 2010 extrem wichtig, eines festzustellen: Ohne diese Werte wären die großen Paraden und Partys niemals möglich gewesen. Mit einem Publikum aus anderen Schichten, alkoholisiert, aggressiv, neidisch und kleinbürgerlich, wären solche Veranstaltungen schon viel früher im Chaos geendet – ein Blick in jedes Fußballstadion genügt.

Das waren wir nie, das wollen wir nicht sein. Wir 1989er. Und wenn unsere Paraden zu kommerziellen Volksfesten verkommen, wenn unsere Werte der absoluten Toleranz und der Liebe zur Musik verloren gehen – dann sollten wir sie beenden.

Ein Mottowagen auf der Street Parade 2010 lautete: „Back to the Roots“. Ein Wagen, schlicht in matt schwarz, ohne Glitzer-TänzerInnen, ohne Show, nur ein DJ. Dazu echt LAUTE Musik, hart, roh, zum Tanzen zwingend. Das hat mir sehr gefallen.

Und einigen anderen auch – die meine Kinder sein könnten. LOL.

(Bild von Loryn auf Pixabay)